Textatelier
BLOG vom: 30.12.2005

Bilanz 2005: Profite aus angerichteten Schäden geschlagen

Autor: Walter Hess
 
Ist ein System, das von Schäden profitiert, die es selber angerichtet hat, richtig oder falsch? Diese Frage und das System sind gleichermassen ein Unsinn. Aber die Sache funktioniert dennoch.
 
Ein nahe liegendes Beispiel: Ihr Blut wird zu dick, weil Sie zu wenig Wasser trinken und falsches, fettreiches Industriezeug essen. Sie gehen zum Arzt, der Ihnen ein Cumarinderivat zur Blutverdünnung verschreibt, auch um Blutgerinnseln und dem Schlaganfall vorzubeugen. Dadurch treten spontane Blutungen und Ödeme auf. Dadurch kommt der Arzt zu Zusatzgeschäften, indem er auch Ihre Blutungen und Ödeme behandeln kann. Und weil alle Medikamente Nebenwirkungen haben, ergibt sich daraus ein einträglicher Teufelskreis mit der Endstation chronische Krankheit.
 
Die Lösung für Ihr Durchblutungsproblem wäre eine Anpassung der Trinkgewohnheiten (Beachtung des Dursts) und der Ernährung (mehr Frisch- statt Industriekost) gewesen – also die Beseitigung der krankmachenden Ursachen. Aber das System ist so beschaffen, dass ein grosses Interesse an kranken Menschen besteht. Sie sind die ergiebigeren Wirtschaftssubjekte.
 
Bei Produkten verhält es sich gleich: Früher wurden Möbel gebaut, die während Generationen ihre Dienste leisteten; heute sind sie, von hochwertigen Ausnahmen wie Designerstücken abgesehen, zu Wegwerfware degeneriert. Sozusagen alle technischen Produkte habe eine beschränkte Lebensdauer, damit die Wirtschaft im Schwung bleibt. Ein betagter Konstrukteur von Küchenmaschinen sagte mir einmal, diese seien auf eine Betriebsdauer von 400 Stunden ausgerichtet gewesen. Ob diese Zahl inzwischen nach unten korrigiert wurde, weiss ich nicht.
 
Das falsche System funktioniert selbst in der Politik. Die Führer der Schweizer Sozialdemokraten und Gewerkschafter wollen die Arbeiterschaft globalisierungstauglich machen, kämpfen an vorderster Front für den Beitritt zur EU. Sie nehmen die Interessen der fusionierenden und rationalisierenden Konzerne statt des werktätigen Volks wahr. Wenn dann Lohnabbau und Entlassungen eintreten, sind sie wieder mit Sozialplänen und Forderungen zur Stelle. So bringen sie ihre Getreuen in die Abhängigkeit. Laut dem Hilfswerk Caritas sollen in der Schweiz bereits 1 Million Menschen von der Armut betroffenen sein, weil viele schon im erwerbsfähigen Alter vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen werden. „Der Arbeitsmarkt erfüllt seine Funktion als primäre Quelle der Existenzsicherung nicht mehr. Dass immer mehr Menschen in unserem Land auf Sozialhilfe angewiesen sind und diese langsam an ihre Belastungsgrenze gerät, ist eine Folge und nicht, wie uns häufig weisgemacht wird, die Ursache dieser Krise“, stellte Carlo Knöpfel, Leiter des Bereichs Grundlagen der Caritas Schweiz fest. Die erwähnte runde Zahl ist eine Schätzung, und ich weiss nicht, was davon zu halten ist. Aber sie sollte zusammen mit den offensichtlichen Folgen der Globalisierung für die Arbeiterführer wenigstens Anlass zum Überdenken ihrer Fehlpolitik sein.
 
Auch mutwillig herbeigeführte Schäden wie die Zerstörungen durch Kriege nach amerikanischem Muster, also flächendeckende Verwüstungsmassnahmen ohne Rücksicht auch auf menschliche Verluste, beleben die Wirtschaft, ansonsten wohl friedlichere Zustände herrschen würden. Die Erfindung und Konstruktion von Kriegsgründen dient dem einträglichen Geschäft; wer in der Wertegemeinschaft, die den Materialismus im Namen führt, nicht mitmacht, hat das Nachsehen und wird bestraft.
 
Wenn keine handgreiflichen Schäden vorliegen, werden Ängste geschürt. Die christliche Religion hat zu diesem Zwecke schon vor Jahrhunderten die Hölle (das ewige Feuer, eine Art Schwefelmeer) mit dem Vorhof des Fegefeuers erfunden, eine grausame Vorstellung, die zur Erzeugung von Ängsten dient. Das System blieb unverändert. Dem gleichen Zwecke dienen heute Angstmachereien wie die Vorhersage von Pandemien wie der Vogelgrippe – selbst Amtsstellen wie das schweizerische Bundesamt für Veterinärwesen sind eifrig damit beschäftigt, die so genannte „Disease Awarenes“ – also ein „sich der Tierseuchen bewusst sein“ – zu schaffen. Dazu wird munter auf der Klaviatur Maul- und Klauenseuche, Schweinepest, Blauzungenkrankheit, West-Nil-Fieber, BSE usw. gespielt. Viele neue Seuchenerreger entstehen wahrscheinlich bei Genmanipulationen in Labors oder durch falsche Tierhaltungen (Massenhaltung). Und wiederum kann aus Fehlern ein enormes Kapital geschlagen werden: Forschungsaufträge jenseits der Abklärung der Ursachen, Medikamente, Ausbau von Überwachungen und Kontrollen usf.
 
Die bewährten Mittel sind die Gestaltung und Pflege von Feindbildern in Verbindung mit Dämonisierungen und Hysterisierungen, die zu allen möglichen Zwecken nützlich sind – unter anderem auch den Medien, die davon leben und ihre Schlagzeilen quotenträchtig vergrössern können. Sie wirken als systemangepasste Multiplikatoren und sind ebenfalls Profiteure vom grundfalschen System.
 
Der Naturschutz spielt kaum noch eine Rolle. Das Bush-Regime, dem sich mit Ausnahme einiger selbstbewusster Länder die ganze Welt unterwirft, tritt das ökologische Denken mit Füssen, futiert sich um bleibende Schäden. Das sind verheerende Signale für die Mitläufer. Sie vergessen eines, worauf der scheidende WWF-Generaldirektor Claude Martin aufmerksam gemacht hat: „Wenn es nicht gelingt, die natürlichen Ressourcen nachhaltiger zu nutzen und besser zu schützen, wird die Weltwirtschaft starke Einbrüche erleiden.“ Mit der Einsicht des Globalisierungsführers George W. Bush rechnet Martin nicht. Demgegenüber nimmt laut seinen in der „Mittelland-Zeitung“ vom 28. Dezember 2005 publizierten, während 12 Jahren gesammelten Feststellungen das Umweltbewusstsein in den Entwicklungsländern stark zu, weil sie den Folgen der Klimaveränderungen, der Trinkwasserknappheit, der Wüstenbildung und der Wirbelstürme sehr direkt ausgesetzt sind.
 
Das Jahr 2005 hat hinsichtlich globaler Verwirrungen und katastrophaler Verwüstungen allem, was diesbezüglich vorangegangen war, noch die Krone aufgesetzt. Ich habe das beim Bloggen (beim Schreiben von Tagebuchblättern fürs Blogatelier) gespürt, und all den zivilisationskritischen Autoren, die sich ebenfalls fleissig und mit Fachkompetenz zu Worte gemeldet haben, ist das offensichtlich nicht anders ergangen. Es gab zu viele Themen und zu wenig Tage, um all das kommentierend festzuhalten, was diese Zeit der Totalverwirrung prägt. Umso wohltuender waren die Lichtblicke, die es auch gab und die ebenfalls ins Blogatelier gern Eingang fanden.
 
Wir leisten uns noch den Luxus des selbstständigen Denkens und ziehen, wie ein Blick auf die Leserreaktionen lehrt, Menschen an, welche dies ebenfalls tun. Sind wir vielleicht ebenfalls Profiteure des falschen Systems? Die in diesem Jahr 2005 erschienenen 3 Bücher aus dem Verlag Textatelier.com („Kontrapunkte zur Einheitswelt“, „Bözberg West“ und „Richtig gut einkaufen“) hätten zweifellos weniger Beachtung gefunden, wenn es nicht viele Menschen und auch Medienleute gäbe, die Auswege aus der verfahrenen Situation suchen. Aber hinter all unserem Schaffen steht kein eiskalt berechnendes Kalkül. Ob beim Büchermachen oder beim Bloggen suchen wir nicht den kommerziellen Erfolg, sondern dies geschieht aus dem Bestreben heraus, einen ganz kleinen Beitrag zu Veränderungen zu leisten, welche im Interesse der Biosphäre und aller Lebewesen zwingend nötig sind. Man braucht nicht WWF-Chef gewesen zu sein, um deren Notwendigkeit zu erkennen.
 
Wer Einfluss auf die Geschichte nehmen will, hat keine andere Wahl als bei seinem eigenen Verhalten anzufangen und nach seinen eigenen bescheidenen Möglichkeiten auf das Rad der Geschichte einzuwirken. Wenn dies Tausende, Zehntausende, Millionen von Menschen tun, wenn sie lernen, individuell zu handeln, muss sich dort etwas ändern, wo die Hebel der Macht in die falsche Richtung betätigt werden. Mehr liegt nicht drin, aber das ist nicht wenig und hat manchmal eine grosse Wirkung. Mahatma Gandhi hat 1941 Indien zur Unabhängigkeit verholfen, ein Element zur Auflösung des britischen Imperiums. Und jetzt setzen sich verschiedene Organisationen und Personen dafür ein, dass die moderne umfassende Kolonisierung (jetzt beschönigend Globalisierung genannt) unter der rücksichtslos macht- und geldhungrigen US-Vorherrschaft nicht weiter ausgebaut und wenn möglich entkolonialisiert wird.
 
Genau wie schleichende, weitgehend unbemerkte Prozesse die Menschen vereinnahmen, unterwerfen und gefügig machen, so sind auch Abwehrmassnahmen möglich, wenn sich möglichst viele Personen mit ausgeprägter persönlicher Eigenart aus der geistigen Knechtschaft befreien, wenn sie zu eigenen Überzeugungen stehen, entsprechend leben und bemüht sind, in ihrem kleinen Lebensraum drohende Verluste in Gewinne für alle umzusetzen.
 
Ich werde dies im eigenen Garten und im Haus so halten und als einer von 7 Blogatelier-Schreibern, worunter 3 feinfühlige Damen, aus ehrlichem Empfinden heraus weiterhin versuchen, Impulse für eine andere Welt zu geben, die nur eine bessere sein kann.
 
Wir alle wünschen allen unseren Lesern, Freunden und anderen nahe stehenden Personen ein neues Jahr 2006, in dem vieles besser werden wird. Und gleichermassen danke ich den vielen guten, ja ausgezeichneten Geistern, die ununterbrochen ums Textatelier herumschwirren, für alle ihre belebenden Flügelschläge herzlich.
 
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